Wäre ich ein Mensch, würde mir bei dem Anblick das Blut in den Adern gefrieren. Als Toter fühlte ich anders. Etwas starb in dieser Nacht tief in mir und tauchte mich in
eine Finsternis, die mich lange festhalten sollte. Mein eigenes Licht flackerte
und erlosch. Die Welt um mich entwickelte sich zu Asche. Vor meinem Geiste
hallte das grausige Abbild des Negativs nach.
„Philip? Philip! Bleib bei mir!“
Ich hörte Angus nicht. Ich hörte niemanden mehr. Blut! Im gesamten Schlafzimmer! Ein Massaker des Todes. Eine
furchtbare Wahrheit, die meinen schlimmsten Alptraum besiegelte.
„Philip! Verdammt! Tu mir das nicht an.“
Ich ertrug es kaum, die klebrige Substanz anzusehen. Diese getrocknete,
bordeauxrote, fast schwarze Masse, die sich schwer abwaschen ließ und mit UV-Licht ewig nachweisbar. Der widerliche, metallische Geruch nach
Eisen und Jenseits. In Kriminalfilmen und Thrillern sah ich es duzende Male, während ich gut unterhalten mit Popcorn und Cola vor Spannung im Kinosessel
klebte. Getrockneter Lebenssaft am Ort des Verbrechens. Schaurige Szenen mit
verdrehten und entstellten Körpern. Statisten und Puppen, die eine Illusion erzeugten, um den Zuschauer ein
angenehmes Kribbeln zu schenken. Und im besten Fall einen großartigen Ermittler, der analysierte und bei etwa 80 Minuten den Täter präsentierte. Der Zuschauer ging glücklich in sein kuscheliges Zuhause und wusste, Verbrechen wird in der Realität bestraft. Dort sollte Mord sich gefälligst weit entfernt von Heim und Herd zutragen.
Was blieb, wenn sich eines Tages das eigene Schlafzimmer in einen Tatort
verwandelte? Die Tote darin die Liebe des gefallenen Engels in Ausbildung war,
der jetzt ermittelte? Als Mensch eine Horrorvorstellung und grausam anzusehen.
Für mich, den Hauptdarsteller, die apokalyptische Hölle. Blut zu sehen bedeutet in meinem Zustand Schmerz in der Seele, der mein
Sein ins Nichts zog. Es verwandelte sich in gefräßige Löcher fremder Dimensionen, die mich gierig anstarrten und glauben ließen, dort unten für alle Ewigkeit gefangen zu sein. Eiseskälte beschlich mich und schnürte mir die Energie ab. Der Raum übersät mit den toten dunklen Öffnungen, hinter denen düstere Schemen vorbeizogen.
„Wir haben ein Problem.“
Schwach vernahm ich Angus Stimme. Unfähig, mich von dem schrecklichen Anblick loszureißen. Inmitten des Ehebettes, indem Aime vor sieben Tagen ein letztes Mal in
meinen Armen gelegen hatte, befand sich der größte und schwärzeste Schatten. Der Umriss einer Frau.
„Er flackert, ihr könnt aufhören.“ Die Worte pochten dumpf und unverständlich an mein Bewusstsein.
„An...gus?“ Ich fühlte mich weit weg.
„Philip? Kannst du mich hören?“
Er zog mich auf die Füße und stützte mich. Mein Kopf sackte auf die Brust, meine Beine knickten ein. Ohne ihn wäre ich sofort wieder zusammengesunken.
„Hey. Ich verstehe, dass es anstrengend ist. Aber du musst zurückkommen.“ Ein Schütteln rüttelte an mir. Ich wehrte mich, in diese grausige Welt zurückzukehren, die meine Liebe vernichtete. Mein Selbst trudelte in einen
bodenlosen Abgrund und wollte sterben. Ein verzweifelter Versuch, wie ich
gleich bemerken sollte, denn Rache ist ein bittersüßes Gericht, das kalt gegessen unglaublich belebend schmeckte.
„Komm schon.“
Wozu reagieren? Lande ich jetzt in der göttlichen Komödie, weil dem Leibhaftigen meine Visage nicht gefällt?
„Hörst du mich?“
Nein, du verdammter Drecksack! Seltsamerweise bekam ich von irgendwoher
Lebenskraft und meine Beine hörten auf zu zittern.
„Komm endlich zu dir, Philip! Der Mörder ist hier."
Autsch, das saß. Der Mistkerl versteckt sich in meinem Haus? Das Schwein kauf ich mir. Ich
richtete mich im Zorn auf und stieß Angus von mir, ohne es bewusst wahrzunehmen.
„Wo … ist er“, verlangte ich zu wissen und taumelte.
„Folge mir.“ Er entschwand in den Flur hinaus. Ich verharrte Sekunden im Schlafzimmer und
schaute auf den dunklen Fleck. Noch gestattete ich mir nicht zu trauern und
wollte mich abwenden. Just nahm ich im Augenwinkel eine Lichtreflexion wahr. Zögernd näherte ich mich der schummrigen Lichtquelle. Ein goldener Bilderrahmen lag
verkehrt herum auf dem Boden. Ich schielte zur Tür. Angus kam nicht zurück und ich hob den Rahmen auf. Erstaunt registrierte ich meine neue Fähigkeit, Dinge bewegen zu können und freute mich innerlich, sie bei nächster Gelegenheit an meinem unfähigen Flatterheini zu testen. Das Bild in meinen Händen erstrahlte im hellsten Goldgelb und zartem Rosé. Ein junges Paar im glücklichsten Ereignis ihres gemeinsamen Lebens: das Hochzeitsfoto von Aime und
mir. Normalerweise entsorgte eine Frau nach ihrer Trennung das Foto des Ex-Mannes von
der Liebesspielwiese mit dem Neuem. Warum liegt es neben dem Bett?
Ich begab mich ins Erdgeschoss, wo mein Begleiter angespannt hin und her
marschierte. Er deutete zu meinem Büro.
„Dort drin.”
Zornig wappnete ich mich und hielt inne. Er wartete.
„Soll ich ihn anglotzen oder … töten?”
„Er ist ein Mörder.” Seine Haltung verursachte mir Unbehagen. Der Kopf leicht geneigt wirkte er dämonisch. „Tu es.”
Ich holte meine ganze Wut hoch, glitt entschlossen durch die Schiebetür und zögerte. Eine hochgewachsene Gestalt in einem langen dunklen Mantel kritzelte im
Mondschein eine Nachricht auf einen Notizblock. Seine Lichtfarbe ein Königsblau, das wellenförmig aus seinem Herzen pulsierte. Er stand mit dem Rücken zu mir am Schreibtisch in leicht gebeugter Haltung. Das tote Nichts in
seiner rechten Manteltasche fesselte meine Aufmerksamkeit. Die Form einer
Pistole, ein zarter, roséfarbener Schein wehte aus der Mündung. Ich wusste, wer vor mir stand und weigerte mich es zu glauben.
Mein Freund und Mentor soll verantwortlich sein? Zeitlupenartig schlich ich
links an der Wand entlang. Ich wollte ihm ins Gesicht sehen, bevor ich ihn
zerstörte. Mein Leben war eine einzige Lüge. Welcher Verbrecher trifft jahrelange akribische Vorbereitung damit,
Freundschaften zu pflegen, ehe er die Tat begeht? Erinnerungen unserer
gemeinsamen Zeit huschten durch meine Gedanken und zersplitterten im
aufkeimenden Hass. Am Ende zerbrach das Bild eines tiefen Sturzes ins Leere.
Schritt für Schritt rückte die Gewissheit näher, vor der ich mich am meisten fürchtete und zugleich sehnlichst erwartete. Sein wahres Gesicht. Das autoritäre erhabene Antlitz, das selbst im Alter mit faltigen Furchen aristokratisch und
edel wirkte. Derselbe Mann, der mir vor Jahren meine Existenz in seiner Firma
schenkte, meinen Reichtum ermöglichte und mir die Liebe meines Lebens vorstellte, hat sie umgebracht. Und wie
ich schmerzlich realisierte ...
... auch mich.
Gelähmt presste ich mich an die Wand, atmete hektisch und zitterte. Ich konnte es
nicht. Es fühlte sich an, als ob ich meinen Vater töten würde. Es musste einen Grund haben. Mein Magen rebellierte und klammerte sich an
den verzweifelten Versuch, dass es einem Irrtum entsprang. Damien beendete
eilig seine Notiz, schob den Zettel ein und stürmte hinaus in die Nacht, während ich unfähig zusah.
Das Letzte, was ich erkannte war der leuchtende Abdruck. Einem Brandzeichen
gleich glühten die einzelnen Buchstaben in meinem schwindenden Verstand nach, bevor sie
verblassten:
C H R O M.
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